am 4. März 2023
Es ist ungefähr 30 Jahre her, ich fahre mit dem Rad durch den Müntepark. Da sitzen auf einer Bank sechs ältere Frauen, sie schauen freundlich und – sie singen! Laut und vernehmlich singen sie ein Lied mit vielen Strophen. Es sind Deutsche aus Russland, und sie sind noch nicht lange hier.
Sie haben sich verabredet und zunächst bestimmt ein wenig geplaudert in einem Dialekt, der süddeutsch klingt. Aber dann singen sie miteinander Kirchenlieder aus einem deutschen Gesangbuch, das 1912 in St. Petersburg erschienen ist. Sie haben das Buch nicht dabei, die Lieder mögen 14, 20 oder 24 Strophen haben, sie können sie auswendig.
Was geschieht da? Da treffen sich Frauen, sie danken, bitten und beten. Sie tun es in aller Öffentlichkeit und mit Liedern, die ihnen seit Kindertagen vertraut sind.
Wer vorbeikommt, schaut ein wenig erstaunt. Es ist doch nicht Sonntag! Wir sind doch nicht in der Kirche!
Nein, die sechs Frauen brauchen für ihre Lieder nicht den Sonntag und nicht die Kirche. Sie haben eine andere Glaubensgeschichte als wir. Im Untergrund und im Geheimen mussten sie jahrelang ihre Gebetsstunden und Gottesdienste feiern. Aber sie haben sie gefeiert, denn sie waren ihnen wichtig. Gottes Wort und die Gemeinschaft mit anderen, die glaubten, hat den eigenen Glauben gestärkt und hat sie überleben lassen unter schweren Bedingungen. Der Glaube war überlebenswichtig. Oft wurde er von den Großmüttern an die Enkelkinder weitergegeben.
Nun waren die Frauen hier, und vieles war gut, manches aber auch fremd, um nicht zu sagen: befremdend. Aber sie bewältigten auch diesen Umzug in das freundliche, oft auch schillernde und fremde Deutschland mit Gottvertrauen. Sie wurden treue Gottesdienst- und Bibelstundenbesucherinnen, und sie wurden für uns, deren Leben in ruhigeren Bahnen verlaufen war, zu starken Glaubenszeugen.
Nun sind im letzten Jahr viele Familien aus der Ukraine bei uns angekommen, und auch deren Mut und Zuversicht beeindrucken uns sehr. – „Es mögen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jesaja 54.10) So steht es auf einem Konfirmandenschein, der vor nicht ganz hundert Jahren in Saratow an der Wolga ausgestellt wurde.
Pastorin i. E. Friederike Müller