am 19. Juni 2021
Der Vers „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“(Lukas 19,10) leitet uns durch die kommende Woche. Zu predigen ist in den Gottesdiensten morgen über einen Textabschnitt – auch aus dem Lukasevangelium - mit Gleichnissen, in denen ein Hirte ein verlorenes Schaf sucht und eine Frau einen Silbergroschen wiederfindet.
Vom Hirten und der Frau wird berichtet: Sie lassen alles andere stehen und liegen, um das Vermisste zu suchen! Sie feiern aus Freude über das Gefundene mit Freunden und Nachbarn ein Fest: „ Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war, meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte.“
Ich kenne das gut: Diese Suche mit aller Kraft nach etwas, was mir wichtig ist, was ich gerade benötige: Mein Portemonnaie vor dem Einkauf, meinen Terminkalender zum Absprechen von Terminen oder meinen Autoschlüssel vor dem Aufbruch zu einer Reise.
Natürlich freue ich mich und bin erleichtert, wenn ich etwas davon wiedergefunden habe – aber meine Nachbarn und Freunde lade ich dann nicht unbedingt ein.
Das war vor 50 Jahren ganz anders bei meinen Eltern: Als ich nach einem Verkehrsunfall nach wochenlangem Koma und Rückgang einer Halbseiten-Lähmung - noch von der Reha-Klinik aus – das erste Mal wieder ein Wochenende zu Haus verbringen durfte:
Da gab es ein großes Fest! Verwandte, Nachbarn und Freunde gaben sich die Türklinke gegenseitig in die Hand, um den genesenen, den wiedergefundenen Sohn zu sehen!
Da wurde - wie in den Geschichten oben – etwas von der überschwänglichen Freude sichtbar über das wiedergefundene Verlorene. Und ich glaube, dass allen bewusst war; Gott und seine Engel im Himmel freuen sich mit uns!
Wir alle sind seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 auf der Suche nach unsrem gewohntem Alltag, nach Kontakten mit den Großeltern, mit Freunden und Nachbarn, endlich wieder die eigenen vier Wände verlassen zu dürfen.
Das erklärt auch die Freude über die beginnenden Lockerungen des Lockdowns, die ich in diesen Tagen wahrnehme: Straßen- und Eiscafés füllen sich wieder, die ersten Zusammenkünfte und Konferenzen sind wieder ohne Maske möglich, bald werden wir in Gottesdiensten endlich wieder die Lieder gemeinsam singen – nicht nur summend der Orgel (und manchmal einigen Solisten) zuhören können.
Eine grundlegend neue Erfahrung für uns alle war der verordnete Verzicht auf Gewohntes. Waren wir doch in unserer modernen, leistungsstarken Gesellschaft überzeugt, alles sei planbar, wir hätten alles in der Hand! Umso mehr waren wir überrascht von der Erfahrung, dass eben doch etwas geschehen kann, das unser Leben völlig durcheinanderbringt, das wir nicht unter Kontrolle haben. Verloren waren wir Menschen, wir Krone der Schöpfung.
Ich bin sicher: Überschwänglich wird die Freude sein, wenn Nachbarn wieder Straßenfeste feiern, wir in Gottesdiensten wieder gemeinsam Lieder singen können.
Abzuwarten bleibt allerdings, welche langfristigen Folgen für uns als Einzelne und als Gesellschaft die erlebten Einschränkungen und die neue Erfahrung des Ausgeliefertseins an etwas nicht Beherrschbares haben wird – trotz aller Hilfen von Bund und Ländern. Das wird allenfalls in Ansätzen allmählich erkennbar, wird erst erforscht und erhoben werden müssen.Je länger der Lockdown dauerte, umso mehr wuchs auch die Erkenntnis: Genau so wie früher, wird es nicht wieder werden!
Auch bei Gott und seinen Engeln im Himmel könnte, wie in den Gleichnissen, die Freude groß sein, wenn Menschen durch die Pandemie einen (neuen) Zugang zu religiösem Denken und zum Glauben finden. Wüssten sie dann doch, dass wir Menschen, die Krone der Schöpfung, nicht verloren sind.
Rainer Triller, Prädikant im Kirchenkreis Grafschaft Diepholz