am 24. September 2022
„Guten Rutsch“ klingt es morgen Abend. Momentmal – das ist doch noch viel Zeit bis dahin. Erntedank ist nah, nicht Neujahr!
Doch tatsächlich: Morgen Abend beginnt das neue jüdische Jahr 5783. Das Schofar, ein Widderhorn, wird geblasen. Der schauerliche erhabene Ton des Widderhorns dringt durch den ganzen Körper, lässt die Hörenden erzittern. Es fordert jeden Menschen dazu auf: Denk nach, was im letzten Jahr war. Was war gut? Was ist schief gelaufen? Denn der Fisch fängt vom Kopf her zu stinken an. Deswegen ist Abrechnungszeit mit dem Handeln und Denken im vergangenen Jahr. Neujahr heißt im Hebräischen „Rosch HaSchana“ – Kopf des Jahres. In dieses neue Jahr sollen die Menschen keine Altlasten mitnehmen. Jede und jeder ist aufgefordert, reinen Tisch zu machen und mit reinem Herzen ins Neue zu gehen. Das ist ein inneres Großreinemachen. Wie das wohl wäre, wenn das jeder tät? Wenn dem raffgierigen Steuerhinterzieher von Abermillionen Euro einfiele, dass er Gesellschaft zerstört. Wenn der Brandstifter merkte, dass jeder Mensch, auch ein Flüchtling, besseres Leben suchen und auch finden darf. Wenn der Raser mit Bleifuß die Zerstörung, die er anrichtet, sieht. Wenn der Kriegstreiber die Zerstörung von Leben erleidet. Wenn ich selber spürte, welche Schmerzen ich zugefügt habe – vielleicht manchmal nur durch böswillige Worte. Wie das wohl wäre, wenn jeder sich bemühte, sich zu entschuldigen und wiedergutzumachen?
Da stehen dann die Menschen, die Völker, die Politiker:innen einander entwaffnet gegenüber und wollen tatsächlich das Beste füreinander. Das klingt unwirklich und naiv. Aber wie es wohl wäre, wenn es geschähe?
An diesem Tag ist es die große Hoffnung aller, die in der Synagoge ganz in weiß gekleidet, zusammenstehen. Reinen Tisch machen, damit wir anders ins Neue Jahr gehen, das vor uns liegt. Süß soll es werden, das Neue Jahr. Die Apfelspalte in Honig getaucht – das isst jede und jeder zu Rosch HaSchana. Die Süße genießen die Menschen – und so süß soll das Jahr werden. Beim Feiern und Schmecken und Träumen wird dieser Wunsch für einen Moment Wirklichkeit – eine veränderte Welt ist möglich.
In dem Sinne wünsche ich allen, die das Fest feiern, allen Jüdinnen und Juden einen guten Rutsch. Oder aber mit dem jüdischen Wunsch LeSchana tova tikatev – mögest du eingeschrieben sein (in das Buch des Lebens und in das Bündel der Lebendigen). So wird es ein Neuanfang für alle Welt.
Silke van Doorn, Pastorin der Ev. Kirchengemeinde Freistatt