am 27. Februar 2021
Mutter und Tochter diskutieren in der Küche. Es wird lautstark und eskaliert. Plötzlich sagt die Tochter zur Mutter: „Blöde Kuh!“ Die Tochter läuft aus der Küche, die Treppe hinauf, in ihr Zimmer und schließt sich ein. Nach einiger Zeit steht die Mutter vor der Tür, klopft an und sagt inständig: „Ich vergebe dir, ich vergebe dir!“
Ist das realistisch? Das Opfer bittet den Täter um Entschuldigung? Leider wird in Gesellschaft, Politik und Kirche dieses Spiel gespielt. Begonnen hat es im Alten Testament nach der Schöpfungsgeschichte (1. Mose, Kapitel 3) mit dem berühmten Apfel, der aber die Frucht der Erkenntnis ist. Eva sagt: „Nein, ich war es nicht, sondern die Schlange.“ Adam sagt: „Nein, ich war es nicht. Eva gab mir den Apfel.“
Schuld sind immer die Anderen. Aber die Frucht der Erkenntnis lädt zum Reflektieren ein. Und die Frucht der Erkenntnis ist, dass ich etwas gesagt, beziehungsweise verursacht habe. Kann ich bereuen und um Entschuldigung bitten?
Bevor der Sarg oder die Urne bei Trauergottesdiensten hinausgetragen wird, sage ich immer diese Worte, weil kein Menschenchrist perfekt ist:
„Wer diesen Menschenchristen geliebt und geachtet hat, trage diese Liebe und Achtung weiter. Wen dieser Menschenchrist geliebt hat, danke ihm alle Liebe. Wer diesem Menschenchristen etwas schuldig geblieben ist an Liebe in Worten und Taten, bitte Gott um Vergebung. Und wem dieser Menschenchrist wehgetan haben sollte, verzeihe ihm wie Gott uns vergibt, w e n n wir ihn darum bitten. So nehmen wir Abschied mit Dank und im Frieden.
Vergebung - Entschulden – Entschuld(ig)ung. Jesus hat Vergebung und Entschuldigung gepredigt. Aber Vergebung ist nie geschehen, indem er hinter dem Schuldigen hinterher gelaufen ist und gerufen hat: „Hallo, ich vergebe dir.“
Vergebung ist ein aktives Geschehen zwischen Täter und Opfer. In der Geschichte vom „Verlorenen Sohn“ läuft der Vater seinem Sohn nicht hinterher. Nach reichlicher Lebenserfahrung und Reflexion kehrt der Sohn um und bittet den Vater um Vergebung. Und dann feiert die Familie Gottes das Fest der Versöhnung und Barmherzigkeit. (Lukasevangelium, Kapitel 15)
Die Tochter legt ihr Smartphone beiseite, geht aus ihrem Zimmer in die Küche und sagt: „Mama, Entschuldigung. Es tut mir unendlich leid …“
Pastor Burkhard Westphal, Mellinghausen/Siedenburg